Demonstrierende halten ein Transparent mit der Aufschrift Ni Una Menos

Hohe Dunkelziffer bei geschlechtsspezifischer Gewalt: „Die Schweiz hat ein massives Problem“

Die in der polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlichten Zahlen zu sexualisierter Gewalt und Feminiziden bilden die Realität nicht ab. Die Dunkelziffer ist bei geschlechtsspezifischer Gewalt besonders hoch. von Ben Haab

24.04.16 Dunkelziffer bei Sexualisierter Gewalt

Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zu sexualisierter Gewalt sind zu tief. Die Dunkelziffer ist hoch. Das problematisieren verschiedene Organisationen.

Im März erschien die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023. Über die in der Studie publizierten Zahlen zu häuslicher Gewalt hat Radio X bereits berichtet. Insbesondere zu reden gaben die Zahlen zu Vergewaltigungen und Morden und Tötungsdelikten an Frauen, sogenannte Feminizide.

Die PKS zählt für das Jahr 2023 1371 Vergewaltigungen. Das Problem ist jedoch, dass diese Zahl nur für die Fälle steht, die der Polizei gemeldet wurden. Bei sexualisierter Gewalt ist die Dunkelziffer jedoch sehr hoch. Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2022 geht davon aus, dass nur 2 von 10 Betroffenen sich bei der Polizei melden, um Anzeige zu erstatten. Geht man von diesem Verhältnis aus, muss man von rund 11‘000 Vergewaltigungen ausgehen – das entspricht in etwa der Einwohner:innenzahl von Lenzburg. Deshalb sagt die in der PKS genannte Zahl wenig aus über die tatsächliche Dimension des Problems.

Was sind die Gründe für diese hohe Dunkelziffer? Julia Meier von der NGO Brava nennt im Interview mit Radio X zwei Gründe. Zum einen gäbe es viele falsche Vorstellungen davon, was eine Vergewaltigung sei – sogenannte Vergewaltigungsmythen. So stellen sich die meisten Menschen Täter als unbekannte Aggressoren vor. Das steht im Widerspruch dazu, dass die allermeisten Betroffenen, über 90 %, den Täter kennen. In fast 40 % der Fälle sind Partner oder Ex-Partner die Täter. Den zweiten Grund für die hohe Dunkelziffer sieht Meier im sogenannten Victim Blaming. Die oft suggerierte Mitverantwortung von Betroffenen führt dazu, dass es Betroffene selbst im Nahen Umfeld schwierig ist, über erlebtes zu sprechen. Noch drastischer ist das Problem, wenn bei der Polizei oder an Gerichten solche Vorstellungen wirksam sind. So hat ein Basler Gericht bei einem Vergewaltigungsfall vor drei Jahren das Strafmass für den Täter gemindert, weil das Opfer „falsche Signale“ gesendet hätte.

Die hohe Dunkelziffer bei geschlechtsspezifischer Gewalt macht auch das Basler Kollektiv Ni Una Menos zum Thema. Anfang April hat Ni Una Menos in Basel eine Demonstration organisiert, um auf die Realität von Feminiziden in der Schweiz hinzuweisen und den unbekannten Opfern patriarchaler Gewalt zu gedenken. Ein Problem ist, dass die Polizei keine gesonderte Statistik über Morde und Tötungsdelikte an Frauen und genderqueeren Personen führt. Damit wird das Problem der Feminizide verdunkelt. Dagegen wehrt sich das Kollektiv. Feminizide seien der tödlichste Ausdruck eines patriarchalen Systems, das Frauen und genderqueere Menschen abwerte, ausbeute und unterdrücke.